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Alexander Kästel

An die Nachgeborenen

8. Mai 1945

75. TAG DER BEFREIUNG AN DIE NACHGEBORENEN (entstand zwischen 1934 und 1938) I Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn

Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende

Hat die furchtbare Nachricht

Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Der dort ruhig über die Straße geht

Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde

Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt

Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts

Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.

Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)

Man sagt mir: iss und trink du! Sei froh, dass du hast!

Aber wie kann ich essen und trinken, wenn

Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und

Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?

Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise.

In den alten Büchern steht, was weise ist:

Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit

Ohne Furcht verbringen

Auch ohne Gewalt auskommen

Böses mit Gutem vergelten

Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen

Gilt für weise.

Alles das kann ich nicht:

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

II

In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung

Als da Hunger herrschte.

Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs

Und ich empörte mich mit ihnen.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten

Schlafen legte ich mich unter die Mörder

Der Liebe pflegte ich achtlos

Und die Natur sah ich ohne Geduld.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.

Die Sprache verriet mich dem Schlächter.

Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden

Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel

Lag in großer Ferne

Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich

Kaum zu erreichen.

So verging meine Zeit

Die auf Erden mir gegeben war.

III

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut

In der wir untergegangen sind

Gedenkt

Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht

Auch der finsteren Zeit

Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd

Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt

Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir doch:

Auch der Hass gegen die Niedrigkeit

verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es so weit sein wird

Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist

Gedenkt unserer

Mit Nachsicht.


- Bertolt Brecht -

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